Interpretation des Märchens
Märcheninhalt

Zwei Mädchen, die gute Tochter und die häßliche Tochter leben mit der Hexe zusammen unter einem Dach. Diese bedient die böse Tochter und bedroht das Leben des guten Mädchens. Nur durch einen Platztausch rettet sich das Mädchen und die Hexe enthauptet ihre eigene Tochter. Zusammen mit dem „ Liebsten Roland“ flieht das Mädchen vor der Rache der Hexe. Nach dem Tod der Hexe verläßt Roland das Mädchen, um die Hochzeit zu bestellen. Roland kehrt jedoch nicht zurück und vergißt das Mädchen, das daraufhin in eine tiefe Traurigkeit fällt. Der Schäfer rettet es vor dem Sterben und macht ihm einen Heiratsantrag. Das Mädchen findet einen Kompromiß: es besorgt den Haushalt des Schäfers und bleibt dem „ Liebsten Roland“ treu. Als Roland zu seiner Hochzeit mit einer anderen Frau lädt, muß das Mädchen der Einladung Folge leisten und für das Paar singen. Roland erkennt sein Mädchen sofort wieder und beide feiern Hochzeit.

Thema des Märchens

„ gut sein “ wird von einer bösen Seite der Lebensrealität attackiert. Neid, Gier, Haß und Rache verhindern oder erschweren die Entfaltung dieses Wesens.
Das Märchen erzählt von der Entwicklung menschlicher Liebesfähigkeit. Das Verlangen nach Liebe spürt jeder, auch der liebesunfähigeMensch (häßliche Tochter). Aus dieser Sehnsucht entsteht eine Vorstellung von dem, was und wie Liebe sein könnte. Die häßliche Tochter will Liebe rauben und besitzen. Die gute Tochter geht ein Stück ihres Weges mit der Liebe/ Roland und entwickelt ihre Liebesfähigkeit. Dabei verliert sich das Mädchen und vergißt sich selbst in ihrer menschlichen Existenz.
Die Sorge um sich selbst ist die „ Liebe zum Menschlichsein“ und von grundlegender Bedeutung für den weiteren Weg. Ohne diese sichere Verbindung zu sich selbst gefährdet die Vision von „Liebe“ die persönliche Existenz/ Lebendigkeit. Enttäuschung, Zweifel, Sinnlosigkeit, Traurigkeit sind Schmerzen, die auf die verlorene Lebendigkeit hinweisen.
In diesem Märchen wird sehr schön deutlich, wie das Mädchen sich an die Vision verliert, über den Schäfer wieder zu sich selbst findet und aus dieser Sicherheit zu Roland gehen kann.

Rollenbeschreibung

Die Hexe und ihre häßliche Tochter
In der Doppelrolle „Stiefmutter-Hexe“ wird die lebensfeindliche Seite der Wirklichkeit mit der Verhinderung von Liebe verknüpft.
Die häßliche Tochter drückt das unerfüllbare Verlangen, die Gier nach Liebe aus.

Die gute Stieftochter
Das Mädchen ist gut und schön – es hat eine Begabung für die Liebe.

Der Liebste Roland
Roland ist der Spiegelpartner. Das Mädchen wendet sich ihrer Vorstellung von Liebe zu und versucht mit dieser zu leben.

Der Schäfer
der Spiegel für die Möglichkeiten und Grenzen des Menschseins rettet das Mädchen aus der Lebensnot. Im Schäfer sind Selbsterhaltungs- und Selbstheilungskräfte beschrieben.

Zusammenfassung des Spiegelprozesses

Das Mädchen wird wegen seiner Begabung zur Liebe von der Hexe bedroht. Es behauptet sein „Gutsein“ gegen die Absichten des Bösen und geht den Weg der „ Liebe“ .
Der Spiegelpartner „ Der Liebste Roland“ ist dem guten Mädchen von Anfang an vertraut. Das Mädchen hat konkrete Vorstellungen von der Liebe und handelt danach. Es besiegt die Hexe mit Hilfe von Roland – mit ihrer Liebe ist das Mädchen sicher und stark gegen das Böse. Die Liebe tritt immer mehr in den Vordergrund und die Menschlichkeit des Mädchens bleibt zurück. Roland übernimmt spiegelbildlich die Führung und geht weg, um die Hochzeit zu bestellen. Die Vision, das Ideal, ist zum Sinn und Ziel geworden und läßt die Person zurück. Eine Trennung von Person und Vision ist geschehen – das Mädchen hat sich selbst zurückgelassen und will dem Ideal folgen. Es verbirgt sich in einem Stein und schließt sich von den Mitmenschen ab, um auf die Erfüllung zu warten. Roland aber kehrt nicht zurück – die Erfüllung durch die Liebe kommt nicht. Enttäuscht und verzweifelt gerät es in eine tiefe Traurigkeit und kehrt so in das Leben zurück. In der Gestalt der Blume liefert es sich an die ihm bekannte „ böse Seite des Lebens “ aus und ist bereit, durch diese zugrundezugehen. Das Mädchen will ohne Roland nicht leben. Der Schäfer findet diese Blume. Er ist der Spiegel der Vitalität/ Lebenskraft des Mädchens. Er ist im Unterschied zu Roland ( Vorstellung- visionär) ein realer aktiver Spiegel, von dem Handlungen ausgehen können. Der Schäfer ist keine Idee, sondern Spiegelfigur der inneren Kräfte, die das Mädchen vor dem Sterben bewahren. Es wird vom Schäfer gerettet, versorgt, beruhigt, beschützt und beginnt, am Leben teilzunehmen. Mit Hilfe des Schäfers löst sich das Mädchen aus der Verzauberung und befreit sich aus der Gefangenschaft der Liebes - Vision. Der Schäfer macht dem Mädchen einen Heiratsantrag und es bindet sich in Form der Haushälterin an diesen. In dieser Methapher bindet sich das Mädchen zurück ins Leben und kümmert sich um seine menschlichen Bedürfnisse. Diese Versorgung ist auch eine Form der Liebe und steht für den Heiratsantrag des Schäfers. Eine ausschließliche Bindung an den Schäfer lehnt das Mädchen jedoch ab und bleibt damit auch noch frei für ihre Vision von Liebe. „ Es bleibt dem Liebsten Roland treu und innig verbunden“. Es sehnt sich aus der sicheren Versorgung durch den Schäfer als lebensbejahende Persönlichkeit immer noch nach der Beziehung zu Roland, nach der Begegnung mit der Liebesvision. Die Angst vor diesem Schritt ist auf Grund der vorhergehenden Enttäuschung zu groß. Roland fordert durch seine geplante Hochzeit mit einer anderen Frau das Mädchen heraus, eine Entscheidung zu treffen, sich der Vision erneut zuzuwenden. Das Mädchen steht vor dieser Wahl – Angst und Sehnsucht stehen sich gegenüber, Ja und Nein sind gleichstark.

Wie immer in Märchen sind bei schwierigen Aufgaben drei Schritte nötig.

Das Mädchen leidet unter diesem drohenden Verlust. Die Liebe ist dem Mädchen sehr wichtig, aber die Angst vor einer erneuten Begegnung ist zu groß.
Die Angst muß überwunden werden. Junge neugierige Mädchen, die zum Fest wollen, symbolisieren diese notwendige Verstärkung, den Aufwand an Kraft, um diese Angst zu überwinden und sich auf den Weg zu machen.
In der Begegnung mit Roland gibt es keinen Ausweg, sondern nur die ersehnte Erfüllung.
Spiegelung/ Hochzeit: Roland erkennt sein Mädchen sofort wieder und nimmt sie zur Frau.
Aus der Begabung zu lieben ist die Fähigkeit zu lieben geworden.
Die Vision wird zur Wirklichkeit.

Freude ist eine geistiges Gefühl, ein erarbeitetes Stück Freiheit aus der Überwindung menschlicher Begrenztheit. Dies ist der machbare Weg, über menschliche Grenzen hinauszuwachsen und zu lieben, ohne sich zu verlieren.

Das Märchengeschehen

In der Umgebung von Hexe/Stiefmutter und Stiefschwester, in der Lieblosigkeit/ Liebesunfähigkeit im Ausdruck von Neid und Gier der Antrieb des Handelns ist, lebt das gute Mädchen. Es wird mit menschlicher Bosheit konfrontiert.

Das gute Mädchen hat eine schöne Schürze.
Methapher Schürze:
Die schöne Schürze war in vergangenen Zeiten das Schmuckstück der Festtagskleidung. Das gute Mädchen ist demnach ein „ Sonntagskind/ Festtagskind“ – ein Kind mit der Begabung zum Besonderen, über den Alltag hinaus.
Das Mädchen hat demnach etwas besonders Schönes in sich und an sich, das erstrebenswert ist. Diese Begabung erregt in der häßlichen Schwester Neid. Das Vorhandensein von Schönheit steht in Beziehung zum Fehlen von Schönheit und wird in der Märchensprache als Häßlichkeit definiert. Das schöne Mädchen hat etwas, was der Schwester fehlt und sie häßlich macht.
„ Die häßliche Tochter will und muß die Schürze haben“. Sie ist gierig nach dieser Besonderheit. Die Hexe sucht eine Möglichkeit, das Verlangen nach Liebesfähigkeit zu erfüllen. Sie will ihre Tochter mit dieser Begabung ausstatten und versucht, gewaltsam in den Besitz der „schönen Schürze“ zu kommen. Liebesunfähigkeit wird in dieser Ausgangssituation als menschlich erlebtes Defizit dargestellt. Selbst die Hexe kann diesem Verlangen nicht widerstehen und ordnet sich diesem Ziel unter.

Das gute Mädchen muß sich gegen die Absichten der Hexe behaupten.
Die Hexe plant das gute Mädchen zu enthaupten, um die eigene Tochter zufriedenzustellen. Sie will ohne lange Umwege in den Besitz der Besonderheit/ Begabung kommen.
Das gute Mädchen deutet die ersten Anzeichen richtig und kann die Situation einschätzen. Es begreift die Realität von Gut und Böse und kann sich der Gefahr entziehen. Die Hexe verliert gleich zu Anfang und enthauptet damit ihre eigene Tochter. Sie kann ihr Verlangen nicht befriedigen, sondern schadet durch ihre Vorgehensweise dem eigenen Kind.
Die drei Blutstropfen in verschiedenen Räumen beschreiben die Irritation der Hexe. Bosheit ist blind für die Konsequenzen des Handelns – die Situation wird zerstückelt, die Zusammenhänge gehen verloren, die Übersicht fehlt. Rache ist der Versuch diese Verunsicherung/ Verzerrung auszugleichen. Rache ist nach innen blind und nach außen weitsichtig. Die Hexe richtet ihren Blick weit nach draußen - sie sucht die Fliehenden, um sie festzuhalten und zu vernichten.
Die 1. Prüfung hat das gute Mädchen bestanden – es hat sich aus eigener Kraft behauptet und nimmt Roland mit, um vor der Hexe zu fliehen.
Hier tritt zum erstenmal der Spiegel Roland auf und benennt in dieser Figur die Begabung des Mädchens zur Liebe.

Die Hexe verfolgt das Mädchen
Das Mädchen geht spiegelbildlich zum „Liebsten Roland“, um mit ihm gemeinsam vor der Rache der Hexe zu fliehen. Die Initiative geht vom Mädchen aus. Es wendet sich der Liebe zu, um den weiteren Weg mit dieser zu planen.
Roland rät dem Mädchen, den Zauberstab der Hexe mitzunehmen, um die enormen Möglichkeiten in der „ Lieblosigkeit“ von Neid, Gier bis hin zur Rache zu verringern.
Zauber bedeutet, Macht über etwas oder jemand zu besitzen. Zauber bannt und hält in einem unveränderlichen Zustand fest. Die böse Hexe/ Lieblosigkeit könnte Macht über das Mädchen bekommen. Bosheit kann Menschen erreichen, verzaubern und in diesem Zustand festhalten.
Das Mädchen nimmt mit dem Zauberstab symbolisch der Hexe/ Lieblosigkeit, diese Möglichkeit – es entzieht sich der „ Macht“ des Bösen und folgt damit einer Intuition aus der Liebesbegabung.
Die Hexe verfolgt die Fliehenden mit ihren Meilenstiefeln, aber ohne Zauberkraft. Das Mädchen ist dem Bösen nicht ohnmächtig ausgeliefert, sondern hat seine Begabung in eine Handlungsbereitschaft umgesetzt. Es setzt sich mit der bösen Hexe auseinander.
Als die Hexe ihrem Ziel näher kommt, schützt sich das Mädchen mit Hilfe des Zauberstabes vor ihrem Zugriff. Das Mädchen und Roland sind in See und Ente eine Einheit. In diesem Bild wird das Zusammenwirken von Liebe und Person eingefangen. Das Mädchen ist sicher in ihrer „Liebesfähigkeit“ und widersteht allen Verlockungen. Lieblosigkeit/ das Böse hat verloren.

Die Hexe ist gescheitert und versucht es noch einmal.
Das Mädchen verzaubert sich in eine Blume inmitten einer Dornenhecke und Roland in einen Geigenspieler. Das Mädchen ist zum Widerstand gegen das Böse fähig- es ist stark geworden. Es macht den Spiegelpartner Roland/ Liebe zum Ansprechpartner der Hexe/Lieblosigkeit. In diesem Bild wird die Hexe mit der Gegensätzlichkeit ihrer eigenen Befindlichkeit konfrontiert. Die Hexe wendet sich an den Geigenspieler, der in dieser Konstellation zu ihrem Spiegel wird. Dieser kann ihr nur die auf sie zutreffende Antwort geben: er spiegelt das Tun der Hexe in dem Zaubertanz. Die Hexe tanzt sich zutode – sie kann ihr Tun nicht unterbrechen und stirbt an ihrer Gier, ihrem Verlangen und ihrer Rache.

Das Mädchen ist befreit und frei von Lieblosigkeit.
Das Ziel „Entwicklung der Liebesfähigkeit“ ist erreicht und das Märchen könnte hier ein Ende finden. Es ist dem Märchenrahmen entsprechend an der Zeit, die Verbindung zwischen dem Mädchen und Roland in der Hochzeit festzumachen.
Der Spiegel Roland will zu seinem Vater, einer weiterführenden Instanz, um die Verbindungsabsicht zu besprechen. Durch diesen Schritt macht der Spiegel Roland dem Mädchen deutlich, daß eine andere Ebene dazukommt, in der Roland zuhause ist. Er nimmt das Mädchen nicht mit.

Das Mädchen nimmt das Hochzeitsversprechen an, bindet sich damit an ihre Vision von Liebe und will auf die Rückkehr/ Erfüllung des Versprechens warten.
Das Mädchen kann nicht mit Roland gehen, noch fühlt es sich den Menschen zugehörig.
Es verbirgt sich in einem roten Felsstein, um von außen nicht erkannt zu werden.
Im Märchen: „ So will ich derweil hierbleiben und auf dich warten, und damit mich niemand erkennt, will ich mich in einen roten Felsstein verwandeln“...
Der rote Felsstein ist ein Symbol für eingeschlossene Energie, Konzentration und Stärke. Das Mädchen zieht sich von den Menschen zurück und konzentriert sich auf Rolands Rückkehr. Es erwartet „ Glück/ Erfüllung oder Vollendung“ aus dieser Liebesfähigkeit/Vision.

Spiegelbilder können nur den Weg aufzeigen und nicht selbst handeln. Folgedessen kehrt Roland auch nicht zurück. Es passiert nichts. Warten auf ein Wunder, eine von der Spiegelseite ausgehende Erfüllung, führt in die Leere. In dieser Methapher wird die unüberbrückbare Diskrepanz der menschlichen Liebesfähigkeit zu der weiterführenden Vision von Liebe beschrieben. Das Mädchen stößt an die Grenzen des Menschseins. In dieser Sequenz ist ein Bruch/ Trennung zwischen Menschlichsein/ Liebesfähigkeit und Vision/ Liebe.
Das Mädchen ist im Niemandsland, zurückgezogen von dem Leben und vergessen von Roland.
In dieser Einsamkeit, Ernüchterung und Enttäuschung entsteht das Gefühl der Sinnlosigkeit. Es gibt kein erstrebenswertes Ziel mehr und das Leben wird zur Qual.
Das Mädchen verwandelt sich in eine Blume und wartet auf das Sterben.
Die Blume ist das Symbol für Beziehung, Schönheit, Geschenk, Liebe und Verletzlichkeit.
Das Mädchen gibt alles, was mit dem Glück Roland zusammenhängt auf und ergibt sich der bekannten „ schonungslosen zerstörerischen Seite der Wirklichkeit“ – es erwartet Lieblosigkeit. Diese Situation ist ähnlich der Ausgangssituation, nur gefährlicher. Das Mädchen behauptet sich nicht mehr – es inszeniert seine Enthauptung.
Der Spiegel Roland beschreibt diesen Zustand genauer: Roland gerät in die Fallstricke einer berechnenden Frau, die ihn das Mädchen vergessen macht. Das Mädchen ist durch die Enttäuschung sehr verletzt und gibt sich gezielt/ berechnend der Lieblosigkeit preis und erwartet in dieser das Ende. Die Hingabe/ ausschließliche Bindung an die Vision/ Roland wurde zur Falle, aus der sich das Mädchen nicht mehr befreien kann. Roland hat das gute Mädchen vergessen – das Mädchen hat sich selbst vergessen und behauptet sich nicht mehr. Das Böse/ Zerstörerische ist nun der ersehnte Ausweg.

In dieser Situation findet der Schäfer, der wohlwollende Aspekt des menschlichen Seins. Lebenserhaltende Kräfte werden mobilisiert - der Schäfer bewahrt das Mädchen vor dem Sterben.
Die Schäfer - Methapher steht für Versorgung, Schutz, Fürsoge, Geborgenheit, Geduld, Ruhe, Gelassenheit, aber auch für Einfachheit, Bescheidenheit, Einsamkeit, Alleinsein, Nachdenklichkeit und Stille. Er hat ein großes Wissen über Heilungskräfte der Natur und ist auch ein Philosoph. Er ist eine Verbindungsfigur zwischen Körper und Geist, von Person und Vision.

Das Mädchen ist zweifelsohne seelisch und körperlich schwer krank geworden – es ist lebensmüde, ißt und trinkt nicht und will sterben. Es muß behütet, versorgt und geheilt werden.
Im Kasten des Schäfers findet das Mädchen wieder zu sich und zurück ins Leben. Es kommt wieder zu Leibeskräften. Es verrichtet aus Dankbarkeit den Haushalt des Schäfers – es beginnt wieder zu essen, zu trinken, zu ruhen, aufzustehen, die Umgebung zu ordnen, zu sorgen und zu gestalten. Das Mädchen ist dem Schäfer dankbar und gewichtet damit nachträglich die Notlage. Dankbarkeit ist stille Freude über die Rettung aus der Lebensnot und drückt die Akzeptanz der Menschlichkeit aus. Das Mädchen will wieder leben.
Der Schäfer als direkter Spiegel des Menschseins ist aktiv – er wirkt in dem Mädchen. Der Schäfer ist keine Vision, sondern eine innere regulierende Kraft. Hier liegt der Unterschied zum Spiegel „ Roland“, der als Visionsfigur nur zur geistigen Entwicklung auffordern kann.

Der Schäfer löst das Mädchen aus der Verzauberung, aus der Gefangenschaft in der Vision.
Wie immer im Märchen können sich verzauberte Personen nicht selbst erlösen, sondern müssen auf Hilfe warten. Hier sind die Grenzen des inneren Schäferaspektes angesprochen und der Rat einer außenstehenden „weisen Frau“ ist nötig. Die weise Frau im Märchen kennt sich mit Hexen und Zauberern aus. Sie weiß von dem außergewöhnlich schwierigen Weg und Irrtum des Mädchens und kann Linderung schaffen.
„ .....wirf ein weißes Tuch darüber, dann ist der Zauber gehemmt.“
Diese Methapher weist auf ein Ritual der Reinigung und des Neubeginns hin. Das Mädchen wird von einer Bindung gelöst. Der Zauber/ innerer Bindungszwang an die Vision Liebe wird gehemmt und als ausschließliche Bindung verhindert. Das Mädchen erhält seine menschliche Form wieder und kann nun außerhalb des Kastens des Schäfers leben.
Der Schäfer macht dem Mädchen einen Heiratsantrag, ein ausschließliches Verbindungsangebot mit dem Menschlichsein. Das Mädchen lehnt den Heiratsantrag ab, will aber die Arbeit als Haushälterin besorgen und bei dem Schäfer bleiben. Es ist dankbar für die Sorge und Geborgenheit und übernimmt Aufgaben. Das Mädchen gibt dadurch der menschlichen Lebensbasis die entsprechende Wichtigkeit und Bedeutung. Es geht eine Teil- Verbindung mit der eigenen menschlichen Wirklichkeit ein und bleibt weiterhin dem Liebsten Roland treu.
Die Distanz zur Vision hält das Mädchen trotz der Treue und Sehnsucht aufrecht.
Diesen Zustand spiegelt Roland, indem er eine andere Frau heiraten wird und die Mädchen des Landes zum Fest lädt. Der Spiegel fordert das Mädchen heraus, sich ihrer Vision/ Vorstellung von Liebe wieder anzunähern.
Der endgültige Verlust von Roland schmerzt das Mädchen sehr, aber es findet nicht den Mut, sich ihm zuzuwenden. Die Angst vor einer erneuten Begegnung und Enttäuschung ist zu groß.
Es wird von anderen Mädchen überredet, zum Hochzeitsfest mitzugehen. Eine Verstärkung an Kräften ist notwendig, um diesen Schritt zu tun. Das Mädchen trifft eine mutige und riskante Entscheidung, die den Verlust und den Schmerz der Vorerfahrung einschließt. Es geht zum Fest, um Roland die Ehre zu erweisen und ihn gleichzeitig freizugeben. Die menschliche Bindungsabsicht ist nicht mehr führend und Erfüllung wird nicht erwartet. Lediglich die Verehrung und Würdigung der Vision Liebe ist der Sinn. Dieser Schritt ist äußerst schwierig und fast nicht machbar für ein menschliches Wesen – die Überwindung von den eigenen menschlichen Erwartungen gelingt nur in einer „ auswegslosen Situation“. Als der Spiegel Roland endgültig die Bindung mit einer anderen Frau eingehen will, kommt das Mädchen in eine Muß – Position. Sie muß die Lösung akzeptieren und ihm trotzdem mit ihrem Gesang die Ehre erweisen.
„Als es keinen Ausweg mehr findet, beginnt das Mädchen zu singen, um dem Brautpaar die Ehre zu erweisen.“ Die Liebe wird nicht mehr dem eigenen menschlichen Glücksstreben untergeordnet – das Mädchen gibt die Liebe/ Roland frei und gerade durch dieses Tun entsteht Übereinstimmung von Person und Liebe.
Diese Erkenntnis spiegelt Roland: „ alles, was er vergessen hatte und ihm aus dem Sinn verschwunden war, das war plötzlich in sein Herz wieder heimgekommen.“ .
Roland erkennt sein Mädchen wieder – das Mädchen hat das Wesen der Liebe erkannt und in das Menschsein ( Herz ) hineingenommen.
Das Gefühl der Freude entspringt aus der Überwindung von persönlichen Ansprüchen und ist in der Tat eine „ Besonderheit“, ein Höhepunkt menschlicher Leistung. Das Mädchen hat die Begabung zur Liebe in ihrem Leben verwirklicht.
Freude ist Ausdruck eines geistigen Gewinns aus der Überwindung menschlicher Ansprüche.
Freude ist der Eindruck der Erkenntnis, ein Gefühl von Wissen, eine Ahnung von dem Wesen der Liebe.

Das Märchen erzählt von dem Wesen der Liebe und den Möglichkeiten und Grenzen des Menschseins.