Übertragung des Märchens auf die Erfahrung des Sexuellen Mißbrauchs an Kindern
1. Ausgangssituation
  • Bedürfnis und Absicht des Täters
  • Übertragung der Bedürfnisbefriedigung auf das Opfer
  • Kindlicher Entwicklungszustand und Abhängigkeit des Opfers vom Täter
  • Sexueller Mißbrauch an Kindern ist ein Gewaltphänomen

2. Wann entsteht und wie arbeitet die Leistungsfunktion
“Rumpelstilzchen”?

  • Täterdefizit und Positionswechsel
  • Einfühlungsvermögen des Kindes

3. Täter und Tat

  • Steigerung des Macht- und Lustbedürfnisses
  • Absicherung des Täters durch die Tat
  • Benutzung eines Tabus und Verwirrung des sozialen Umfeldes

4. Die Eigendynamik der Tat

  • Das Kind wird zum Mittäter
  • Die Tat übernimmt für den Täter die Bedrohungsarbeit im Opfer
  • Der Nutzen aus dieser Tat für den Täter

5. Die Konsequenz aus dem Mißbrauch für das Opfer
Entstehung einer Krise

  • Die Tat existiert in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
  • Die Wiederentdeckung der ursprünglichen Leistungsfunktion

6. Klärung der Tat

  • Entdeckung des Täters und Zuordnung der Tat zum Täter

7. Identitätsproblem des Opfers

8. Gewinn aus diesem Prozeß

Zusammenfassung

1. Ausgangssituation

Bedürfnis und Absicht des Täters

Dem Täter entspricht im Märchen das männliche Paar, der arme Müller und der goldgierige König. Innerlich ist dieser verarmt und will sich aufwerten- er will bewundert werden. Es geht um das unbefriedigte oder übersteigerte Bedürfnis nach Anerkennung, das sich der Täter gewaltsam erfüllt.
Ein übersteigertes Bedürfnis nach Anerkennung kann aus verschiedenen Gründen entstehen, z.B.durch zuwenig oder zuviel Anerkennung von anderen, Entmachtung oder Machtüberfluß.von außen usw..,
Der Täter ist ein Erwachsener – er hat “ Königstatus”.

Übertragung der Bedürfnisbefriedigung auf das Opfer

Das Kind wird mit Kompetenzen belegt, die den Bedürfnissen des Täters entsprechen. In den Augen des Täters hat das Kind dann die Fähigkeit, seine Erwartungen zu erfüllen. Der Täter stellt danach seine sog. berechtigten Ansprüche an das kompetente Kind.

Märchensequenz: Der Müller bietet dem König seine Tochter an

Abhängigkeit des Opfers

Um diese Übertragung durchführen zu können, muß sich das Opfer in einer großen Nähe zum Täter befinden. Es muß in direkter Abhängigkeit zu ihm stehen und darf keine Ablehnungsmöglichkeiten haben.- der Täter hat Autorität. Dazu eignet sich besonders ein entwicklungsbedingtes Abhängigkeitsverhältnis, das emotionale Abhängigkeit einschließt. Kinder erfüllen diese Voraussetzungen.

Märchensequenz: Die Müllerstochter soll Stroh zu Gold spinnen
Rumpelstilzchen taucht auf

Sexueller Mißbrauch an Kindern ist ein Gewaltphänomen.

Es geht nicht nur um die Befriedigung des sexuellen Bedürfnisses, sondern um das Bedürfnis des Täters, sich der Person soweit als möglich, äußerlich und innerlich, zu bemächtigen.
In seiner Zwanghaftigkeit überschreitet er sämtliche Grenzen und dringt in die kindliche Persönlichkeit ein. Er nimmt die Persönlichkeit des Kindes ganz für sich in Anspruch und fühlt sich dann in seinem psychischen Vakuum befriedigt.

Märchensequenz: Die Müllerstochter verspricht Rumpelstilzchen ihr Kind.

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2. Wie entsteht und arbeitet die Leistungsfunktion “Rumpelstilzchen”?

Bei der Einforderung der Erwartungen in Form von Grenzüberschreitungen kommt das Kind in eine ausweglose und wehrlose Situation.
Das Kind wird mit überwältigenden Kompetenzen belegt. Es wird für fähig gehalten, einen Erwachsenen durch das Aufnehmen in seine kindliche Person aus dessen psychischen Nöten zu erlösen. Dies kann nicht einmal ein Erwachsener leisten.
Zu diesem Zweck erhöht der Erwachsene das Kind, wahrscheinlich über die eigene Person hinaus und zieht es damit in seinen Nutzungsstrategie hinein. Der Täter fühlt sich kleiner als das Kind und schafft damit die Ebene von Nehmen und Geben zu seinen Gunsten.
Das Einfühlungsvermögen und das Mitleid des Kindes werden vom Täter benutzt.
Das Kind will dem Täter in seiner Not helfen. Es spürt seine Dringlichkeit und Notwendigkeit. Die kindliche Person erfaßt weit mehr die Not des Gegenübers als ein Erwachsener mit erlernten Abgrenzungsmöglichkeiten. Die Leistungsbereitschaft des Kindes wird leicht und schnell aktiviert. Das Kind gibt sein Bestes, es strengt sich übermäßig an und mobilisiert sämtliche Kräfte und auch Reserven.
Das Kind entwickelt in sich eine Möglichkeit, dem Verlangen des Täters entgegenzukommen.
Das Kind ist fixiert auf die Bedürftigkeit des Täters und sucht einen Weg, dem “ Bedürftigen” zu helfen. Die Leistungsfunktion “Rumpelstilzchen” entsteht bereits in der anfänglichen Uberforderung eines Kindes. Die sexuelle Ebene muß dabei noch nicht tangiert sein. Das Kind rückt automatisch in die ihm zugeschriebene und von ihm erwartete übergewichtige Position. Die Manipualtion des Kindes erfolgt zuerst über Täternot, danach über Rollenverschiebung und anschließende Ausbeutung.

Die Müllerstochter wird Königin

Die Ausgangssituation für sex. Mißbrauch ist geschaffen.

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3. Täter und Tat

Steigerung des Anerkennungsbedürfnisses
Entstehung von süchtigem Verhalten

Mit der Schaffung der Ausgangssituation kommt eine Lawine ins Rollen. Die Zuschreibungen und Anforderungen des Täters werden immer größer, analog der Einstellung des Königs im Märchen “eine reichere Frau find ich nicht”. Die Bedürfnisbefriedigung findet kein Ende, sie hat Zwangscharakter angenommen. Das Kind sitzt in einer Falle.
Die anfängliche kindliche Hilfsbereitschaft wird ihm selbst zum Verhängnis.

Märchensequenz: Rumpelstilzchen holt immer wieder das Kind der Königin

Die Absicherungen des Täters – das Versteck der Tat

Mißbrauch eines Tabus - Verwirrung des sozialen Umfelds durch den Täter

Durch die Wahl der sexuellen Basis hat der Täter die tabuisierte Verbindungsmöglichkeit zwischen ihm und dem Kind gefunden. Die sexuelle Ebene eignet sich hervorragend für die Strategie des Täters, denn dieses Thema unterliegt weitgehend einem strengen Tabu. Bis vor ca 2o Jahren war Sexualität insgesamt ein strenges Tabu. Bei Bekanntwerden einer Tabu- Tat muß das Opfer mit Bestrafung in Form von Scham und Schande und Ablehnung rechnen. Das Tabu wird von dem Täter mißbraucht und als Verstärkung seiner Strategie eingesetzt. Das geheime Tabu-Bündnis zwischen Täter und Opfer verstärkt die Beziehung gegenüber anderen Beziehungen. Inzest betrifft und zerstört langsam aber sicher das gesamte Familiensystem in seinem Beziehungsnetz. Es verwirrt und verstrickt die Beteiligten und läßt Handlungen und Absichten nicht mehr zuordnen. Andere Beziehungen leiden unter der Dominanz der Opfer - Täter- Beziehung.
Die Tabu- Tat macht das Opfer weitgehend zum Werkzeug des Täters. Der Täter hat sein Ziel erreicht und verfügt über die Person.

Märchensequenz: Rumpelstilzchen bereitet sein Festmahl vor

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4. Die Eigendynamik der Tat

“Rumpelstilzchen”, die Leistungsfunktion des Kindes wird zum Mittäter.

Das Opfer übernimmt auf Grund seiner anfänglichen Leistungsbereitschaft die direkte Verantwortung für die Tat und entlastet damit den Täter. So ist es durch den Positionswechsel vom Täter aus auch gedacht.
Die aufkommenden Schuld- und Schamgefühle sorgen für eine ständige Schuldübernahme. Der Täter hat über die Einforderung der Tat Macht über die kindliche Person bekommen. Der Täter ist mächtig geworden - er erlebt sich anders als vorher.
Die Absicht und Organisation des Täters rücken durch das Zusammenwirken von Täter- Opferverhalten ins Dunkle.
“Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß.”
Der Täter wird durch die Zuordnung der Tat zum Opfer abgesichert und kann sich verstecken.

Märchensequenz: Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß ...

Die Tat übernimmt für den Täter die Bedrohung des Opfers.

Die Tat gewinnt nun Einfluß auf das zukünftige Leben des Kindes. Sie richtet sich gegen das Opfer.

Der Nutzen aus der Tat für den Täter

Er besetzt und besitzt eine Person und fühlt sich dadurch stark und wichtig. Er erzwingt sich die Konzentration des Kindes auf seine Person. Er ist Mittelpunkt im Leben des Opfers. Er fühlt sich dadurch aufgewertet und kann sich selbst in dieser Wertigkeit akzeptieren.
Der Täter hat mit der Tat an sich kein Problem und auch kein Problembewußtsein. Er fühlt sich nur durch die Besetzung als Person gut und in Ordnung. Für die eigene und fremde Nichtentdeckung seiner Strategie ist gesorgt.

Märchensequenz: Etwas Lebendiges ist mir lieber als alle Schätze dieser Welt.

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5. Die Konsequenz aus dem Mißbrauch für das Opfer
Entstehung einer Krise

Die Tat unter der oben geschilderten Verantwortungszuordnung zum Opfer fordert ihren Preis. Selbst wenn der Täter aus irgendwelchen Gründen auch immer vom Opfer abgelassen hat, empfindet es die Erfahrung bedrohlich. Die ständigen Schuld- und Schamgefühle verhindern eine positive Lebensgestaltung. Die Betroffenheit des Opfers wird durch das zeitunabhängige Tabu ständig aktiviert. Das Opfer wird ständig an die Tat erinnert und es wird ins Geschehen zurückgedrängt. Es fühlt sich festgehalten in seiner Vergangenheit. Es lebt keine Gegenwart und hat keine Zukunft ohne diese Erinnerung. Die Vergangenheit bleibt lebendig – Veränderung ist fast nicht möglich.
Durch diesen Vorgang bekommt die Tat ein unveränderliches bedrohliches Gesicht. Die Tat zerstört das Leben im Nachhinein. Sie ist nie beendet.

Märchensequenz: Die Königin hat Rumpelstilzchen vergessen und plötzlich taucht es auf ...

Die Krise

Schwere Schuldgefühle, Depressionen, Krankheiten, Selbstzerstörungsmechanismen greifen von innen die persönliche Existenz an. Die Sehnsucht nach Veränderung/ Befreiung wächst.
Die Gebundenheit an die Tat und die Verpflichtung zum Täter und das eigene Entwicklungsbedürfnis fallen in der Krise zusammen.

Märchensequenz: Rumpelstilzchen will das Kind holen und die Königin will es behalten.

In dieser extremen Krisenspannung liegt die Chance zur Veränderung der Tat - Dynamik. Die Person findet durch die schmerzliche Krise wieder Zugang zu sich selbst und spürt ihre lebensbedrohliche Lage. Das vom Täter genommene und besetzte Einfühlungs- und Leistungsvermögen kann durch und in dieser Krise zurückgenommen werden. Es wird dringend gebraucht für einen Weg aus dieser Krise.

Märchensequenz: Rumpelstilzchen gibt den Auftrag, seinen Namen zu finden, um das Leben des Kindes zu retten.

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6. Die Klärung der Tat.

Entdeckung des Täters und Zuordnung der Tat

Das bedeutet, die Tat muß dringend hinterfragt werden. Die Tat, ihr Organisator und seine verdeckte Strategie müssen benannt werden. Die Verantwortung für die Tat muß neu zugeordnet werden. Die Leistungsbereitschaft des Opfers und das kindliche Einfühlungsvermögen müssen von der Tat getrennt werden. Die eindeutige Zuordnung der Verantwortung für die Tat zum Täter kann das Opfer von der Tat distanzieren.
“Der Kobold Rumpelstilzchen” als der passive Spiegel des Täters im Opfer muß sich aus der Person lösen. Die Macht des Täters über das Leben des Opfers hört damit auf.
Diesen inneren Klärungsprozeß muß die Person selbst leisten.
Der Täter wird dies auf Grund seiner inneren Struktur nicht leisten können. Er wird sich permanent weigern, die Verantwortung zu erkennen und zu übernehmen.
Das Opfer muß trotz dieser Weigerung seinen eigenen Prozeß der Distanzierung vollziehen.

Märchensequenz: Der Bote findet das Versteck des Rumpelstilzchens

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7. Identitätsproblem des Opfers - Neubeginn

Die Strategie des Täters hat das psychische Leben des Opfers grundlegend zerstört.
Die Identität des Opfers wird durch diesen Distanzierungs- Prozeß wiederum in Frage gestellt. Das Vertrauen in die eigene Person und in Beziehungen ist grundlegend erschüttert. Die Person ist total verunsichert. Jede Kontaktaufnahme ist von Angst begleitet.
Die Distanzierung von der Tat ist auch eine Infragestellung der eigenen Persönlichkeit. Ein ganz gewichtiger Teil des bisher gelebten Lebens muß überprüft und korrigiert werden. Dieser Distanzierungsprozeß ist ein Kampf und ein Ringen um eine neue Identität.
In diesem Distanzierungsprozeß stellt sich heraus, ob die Person ihr Leben gewinnt oder verliert.

Märchensequenz: Erfunden/ Ist das Kind der Königin lebensfähig?

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8. Gewinn aus diesem Prozeß

Die Spiegelung am Ende des Märchens über das königliche Kind verschlüsselt die neuen Möglichkeiten.
Die Person muß sich von Grund auf ähnlich einem Kind neu strukturieren. Dennoch ist ein Unterschied zur allgemein kindlichen Entwicklung. Mit diesem Erfahrungswissen und dieser Überlebensleistung wird die weitere Entwicklung auch anders verlaufen. Die Entstehung einer neuen Identität ist mit einer eigenen Geburt zu vergleichen. Eine solche Persönlichkeit wird eine besondere Einstellung zum Leben im allgemeinen haben. Die Sensibilität und die Wahrnehmungen werden anders sein. Diese Persönlichkeit hat außergewöhnliche Möglichkeiten und unterscheidet sich von üblichen Entwicklungen.

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Zusammenfassung

Die kindliche Zuneigung und die Abhängigkeit vom Erwachsenen ermöglicht den Erfolg der Strategie des psychisch verarmten Erwachsenen. Das innere Selbstwertdefizit des Täters und sein fehlendes Problembewußtsein bringen das Opfer in eine lebensbedrohliche Situation, aus der es sich selbst befreien muß.
Da der Täter neben sich selbst sowohl das Opfer als auch die Außenwelt täuscht, hat das Opfer nur eine geringe Chance, diese Befreiung zu vollziehen. Zuviele Bedingungen richten sich gegen das Opfer.
Häufig sterben die Opfer einen psychischen Tod. Die verinnerlichte Tat nimmt ihnen die Lebenskraft. Der Täter bleibt unbehelligt in seiner Verarmung stecken und sucht sich ein neues Übertragungsmodell.
Das Märchen verschlüsselt im Vorgehen des Rumpelstilzchens den verdeckten Ablauf der Mißbrauchsproblematik.