Interpretation des Märchens
Märcheninhalt

Die sieben Geißlein werden von der Geißenmutter geschützt und versorgt. Sie haben mit den Gefahren außerhalb des Geißenhauses nichts zu tun. Doch der böse Wolf kommt an die Tür als die Mutter Nahrung sucht. Die unerfahrenen Geißlein werden getäuscht und der Wolf frißt sechs von ihnen auf. Das jüngste Geißlein kann sich vor ihm retten und wird von der Mutter gefunden. Sie sucht zusammen mit dem Kind den bösen Wolf und holt sich ihre Kinder zurück. Der Wolf ertrinkt im Brunnen.

Märchenthema

Das Märchen stellt Unerfahrenheit/ Kindlichkeit in den Erlebnisrahmen mit "Gut und Böse".

Es ist ein uraltes Thema. Das Böse kommt durch Schlauheit ans Ziel und nimmt sich das, was schwach ist. Klugheit ist die Stärke des Guten, sich mit dem Bösen auseinanderzusetzen.

Wirklichkeit steht in dem Spannungsbogen zwischen Gut und Böse. Leben ist eine ständige Bewegung in dieser Spannung und jedes Kind muß die Fähigkeit entwickeln, in dieser Wirklichkeit zu leben. Aus der Konfrontation von Gut und Böse entsteht ein Antrieb, eine Kraft, die die persönliche Entwicklung einleitet und den Charakter formt.

Das Märchen ist ein Grundsatzmärchen – eine Methapher für die Existenz und das sinnvolle Zusammenwirken von Gut und Böse.

Rollenbeschreibung

Die sieben jungen Geißlein werden behütet und versorgt. Sie sind unselbständig und unerfahren. Sechs von ihnen werden von dem bösen Wolf gefressen. Das jüngste Geißlein entkommt dem bösen Wolf und lernt aus dieser Erfahrung.

Die Geißlein beschreiben die Kindposition.

Die Geißenmutter

schützt, behütet und versorgt ihre Kinder. Sie will ihre Kinder vor der Wirklichkeit des Bösen bewahren. Ihre Ratschläge ersetzen jedoch nicht die Erfahrung. Die Geißenmutter verkörpert das "Gute" in unserer Wirklichkeit. In der Märchensprache ist mütterlich gleichbedeutend mit gut oder wohlwollend.

Der böse Wolf

kommt in der mütterlichen Verkleidung zu seinem Ziel.
Der Wolf verkörpert das "Böse" in der Wirklichkeit.

Das Märchen ist ein allgemeingültiges grundsätzliches Märchen vom Leben in dieser Wirklichkeit. Daher spielt es auch auf der Tierebene.

Interpretation des Märchengeschehens
Vorspann

Die Geißenkinder werden behütet und versorgt – sie kennen das Leben nur von der angenehmen Seite. Die Geißenmutter nimmt die Kinder in Schutz und versorgt sie mit Nahrung. Sie ist die " Gute Mutter" und beschreibt damit die " nährende Seite" der Wirklichkeit. Daneben aber gibt es den Wolf, ein Raubtier, der die Geißlein als Nahrung braucht. Er verkörpert in dieser Figur das Räubersiche, die böse Seite der Wirklichkeit, sich am Leben nährt. Gut und Böse – versorgen und berauben- stehen sich in den beiden Figuren gegenüber. Dazwischen befinden sich die sieben jungen Geißlein. Diese Figurengruppe beschreibt eine junge unerfahrene Person, die sich unter diesen Bedingungen entwickeln muß. Gut und Böse sind " Bewertungsmaßstäbe oder Ausgangspunkte", die unabhängig von der Wirklichkeit ihre theoretische Eindeutigkeit haben. In der Wirklichkeit vermischen sich beide Maßstäbe und werden neu definiert. Jedes persönliche Leben durchläuft diesen Prozeß und wir schaffen gemeinsam eine Wirklichkeit in diesem Spannungsbogen.

Ausgangssituation

Im abgeschlossenem Raum des Geißenhauses machen die Geißenkinder nur die Erfahrung mit der guten Mutter. Sie behütet und ernährt ihre Kinder – ein paradiesischer, teilwirklicher Zustand.

Raum, Zeit und Energie sind die Lebensbedingungen – in diesen drei Dimensionen gestaltet sich Leben und wird erfahrbar. Erfahrungen werden auf dieser Basis gemacht und zur Lebenswirklichkeit.

Im geschützten Raum wird für die Ernährung gesorgt. Die Geißenmutter kann den Zustand nur zeitlich begrenzt aufrechterhalten. Sie muß die Kinder verlassen, um Nahrung von draußen holen.

Die Zeit der Behütung und Versorgung ist vorbei – der andere Teil der Wirklichkeit steht damit vor der Geißenhaustüre.

Die Mutter bereitet die Kinder auf diese Wirklichkeit vor. Sie erklärt die Existenz des Bösen und den Unterschied zwischen Gut und Böse. Ihr Ziel ist, daß die Kinder das Böse erkennen und sich davor schützen können.

Die Ratschläge ersetzen leider nicht die Erfahrung – und sie entsprechen auch nicht ganz der Wirklichkeit.

Die Begegnung mit der Wirklichkeit bleibt den Geißlein nicht erspart.
  1. Begegnung mit dem Bösen
    Der auffällige Unterschied zwischen Wolf/Anbieter und Angebot
    Die Geißlein erkennen den bösen Wolf und weisen ihn zurück

    Die Geißenkinder erkennen aus ihrem geschützten Raum den bösen Wolf. Sie orientieren sich am Rat der Mutter. Der Wolf macht ein Nahrungsangebot, das die Geißlein überprüfen. Sie lassen sich nicht durch Versprechungen verführen und schauen sich den Wolf an. Angebot und Anbieter passen nicht zusammen. Das Böse kann nicht nähren. Eindeutig böse Situationen/Personen werden erkannt und gemieden. Gleichzeitig teilen die Geißlein in ihrer Unerfahrenheit dem Wolf dies mit, so daß er diesen Unterschied beseitigen kann. Das Böse bekommt durch Unerfahrenheit/ Naivität eine weitere Chance.
    Der Wolf beginnt mit seiner Kunst der Verführung. Das Böse wird sehr kreativ und paßt sich an das Gute an.

  2. Versuch
    Die Ähnlichkeit zwischen Gut und Böse
    Der Wolf verändert sein Aussehen

    Der Wolf macht seine Pfote weiß – er paßt sich äußerlich dem vertrauten Geißenmutterbild an. Gut und Böse sehen sich ähnlich und sind schwer zu unterscheiden. Vorsicht und Klugheit bewahren die Geißenkinder vor einer vorschnellen Entscheidung. Das Nahrungsangebot wird überprüft, zurückgewiesen und wieder verraten die Geißlein ihre Informationsquelle.
    Das Böse bekommt wieder eine Chance.

  3. Versuch - die Anpassung des Bösen an das Gute
    Der Wolf überlistet die Geißenkinder

    Er macht seine Stimme fein und paßt sich dem Ton/Klang/Ausdruck des Guten an. Der Wolf ist nun äußerlich und innerlich von der Geißenmutter nicht zu unterscheiden und die Geißlein öffnen die Türe.

Das Böse konnte sich durch die Informationen von den Geißenkindern grandios entfalten und sich scheinbar an das Gute anpassen. Es erweckt den Eindruck nährend zu sein – die Täuschung gelingt.
Das Böse hat das Hindernis überwunden und kann sich nähren – es gewinnt Raum und Energie und verwirklicht sich in einem großen Maß. Der Wolf verschlingt sechs von sieben Geißenkindern.
Unerfahrenheit hat gegen das schlaue Böse verloren. Der beschützte Raum wird zerstört – die böse Seite der Wirklichkeit hat den Durchbruch geschafft, hat seinen Lebensraum erweitert.
Gleichzeitig hat sich der Lebensraum des jüngsten geretteten Geißlein auf einen Uhrenkasten reduziert.

Die Szene zeigt, daß sich Böses nicht vollständig ausdehnen kann – der Spannungsbogen zwischen Gut und Böse bleibt erhalten. Es ist vielleicht ein biologisches/ soziologisches/ psychologisches Prinzip, das nicht außer Kraft gesetzt werden kann.

Das kleine Geißlein sitzt im Uhrenkasten, einem verkleinerten Schutzraum

Energie ist dringend nötig, um das Geißlein am Leben zu erhalten. Es muß von außen etwas geschehen. Die Wirklichkeit muß ein Nahrungsangebot machen, um Leben zu erhalten.
Es stellt sich die Frage, ob die Geißenmutter oder der Wolf kommt. Wer wird das nächste Angebot machen? Den Unterschied zwischen Gut und Böse festzustellen, ist die schwierige Aufgabe des Geißleins. Der Uhrenkasten ist gleichzeitig Schutz und Gefängnis.
Der Uhrenkasten ist eine Methapher für die zwiespältige Lebenswirklichkeit
Das Risiko wird in dieser Methapher deutlich.

  1. Schritt – Das Angebot der Wirklichkeit
    Die Unterscheidung von Gut und Böse

    Die Geißenmutter kommt heim mit einem vollen Futterkorb und sieht die Zerstörung.
    Sie ruft ihre Kinder beim Namen ........Endlich als sie an das jüngste kam........
    Das Geißlein antwortet, als es sich vergewissert hat, daß der Anbieter alle Namen der Kinder kennt. Die Möglichkeit, daß es die Mutter sein wird, steigt mit jedem weiteren Namen. Das Risiko eines Irrtums wird immer geringer.
    Ein Zeichen für ein gutes Angebot ist, wenn der Anbieter die Person benennt und auf Antwort wartet. Verführung oder Unterdrückung zugunsten eigener Interessen ist damit ausgeschlossen. Achtung und Freiwilligkeit sind die Erkennungszeichen des Guten. Gutes setzt die freiwillige Verbindung voraus – Böses bindet mit Verführung und Gewalt.
    Das Geißlein hat diese Prüfung bestanden.

  2. Schritt – der Einsatz für das Gute
    Die Suche nach Verlorenem

    Die Geißenmutter entschließt sich, den Wolf zu suchen und das jüngste Geißlein geht mit....
    Das, was verlorengegangen ist an das Böse, wird nicht aufgegeben und vergessen.
    Erst nach der Unterscheidung von Gut und Böse ist die konkrete Auseinandersetzung mit dem Bösen möglich.
    In dieser Märchensequenz nähert sich das Gute dem Bösen, um das Verlorene zurückzuholen. Auf welche Art dies geschieht, ist von großer Bedeutung. Hier beweist sich die Kunst des Guten.
    Das Gute ist wie das Böse zur Entfaltung fähig.

  3. Schritt - die Befreiung vom Bösen
    Das Böse wird nicht mehr genährt

    Die verschluckten Geißenkinder regen sich noch im Bauch des Wolfes.
    Die Geißenmutter befreit ihre Kinder, füllt Wackersteine in den Bauch und näht diesen wieder zu. Die Geißenmutter stellt den satten Zustand des bösen Wolfes durch Wackersteine wieder her. Sie tauscht nur das Nahrungsmittel des Wolfes aus und hindert ihn so an seinem weiteren Tun.
    Sich wehren ohne zu zerstören ist Klugheit, die Kunstfertigkeit des Guten.
    Diese Szene beschreibt das notwendige Maß an Handlung und die klare Trennung zwischen Gut und Böse. Gut ist wirklich gut, wenn es nicht zerstörend/bös handelt, selbst gegen das Böse nicht.
Abschluß

Jedes menschliche Wesen ist positiven und negativen Lebensbedingungen ausgesetzt. Leben beinhaltet die ständige Auseinandersetzung mit Gut und Böse, innerlich und äußerlich. Bös zu sein und Fehler zu machen ist menschlich. Die Rückbindung an das Gute leitet die Wiedergutmachung ein. Böses wieder gut zumachen ist möglich und diese Erfahrung befreit erst von der Anziehungskraft des Bösen. Böses ist kein Widerspruch zum Guten, sondern das Gegenteil. Böses ist gierig nach Gutem. Böses ist eine Trennung vom Guten. Böses fordert auf Gutes zu verwirklichen. Gutes ist nicht in der Absicht, nur in der Handlung zu ermessen. Gutes ist im Ergebnis sichtbar. Jemand, der nicht handelt, um nicht bös zu werden, ist nicht gut. Die Vermeidung von Bös ist gleichzeitig eine Vermeidung von Gut. Die Entscheidung für Gut oder Böse liegt im Handeln, im Erleben, im Leben. Der Mensch hat die Freiheit zu entscheiden und zu verantworten, was er tut. In der Wahl zwischen Gut und Böse liegt die menschliche Freiheit. Sich vom Bösen zu lösen, ist ein Erlebnisprozeß und keine theoretische Entscheidung. Sich gegen Böses zu wehren, ist nötig und gut.
Gut oder Böse ist ein sowohl ein tägliches Thema als auch ein nichtalltägliches Thema. Gut und Böse ist im Großen und im Kleinen zu erkennen. Im Leben geht es immer um Gut und Bös.
In der Spannung zwischen Gut und Böse formt sich der Charakter.

Sowohl das Gute als auch das Böse bezieht seine Nahrung aus der Lebenswirklichkeit selbst.
Auch die Geißenmutter holt Nahrungsnachschub aus dieser Wirklichkeit, in der auch der böse Wolf lebt.
Das Leben bietet beiden Seiten eine Existenzmöglichkeit.
Das Gute siegt nicht, weil es so vorbestimmt ist, sondern weil sich Menschen darum bemühen. Dieses zusammengetragene Bemühen ist die Nahrungsquelle für den Einzelnen und jeder kann durch sein Gutes zu diese Quelle beitragen. Nichts geht verloren, sondern das kleinste Gute trägt dazu bei, weiteres zu ermöglichen.
Die Menschen gestalten ihre Welt durch ihre guten oder bösen Handlungen. Die Welt ist so gut oder so bös wie ihre Bewohner.
Jeder Mensch muß sich im Laufe seines Lebens in dem Rahmen " Gut und Böse" zurechtfinden und zu einer eigenen Überzeugung finden, die in seine Handlungen einfließen.
Die Menschen machen das Gute und das Böse – wir machen die Wirklichkeit. Das ist unsere Freiheit.
Jeder Mensch wünscht sich " Gutes" und braucht " Gutes"– darin liegt die Chance des "Guten". Nicht der Mensch an sich ist gut – der Mensch braucht das Gute.